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Strukturanalysen hirnpathologischer Fälle

III. Mitteilung. Über den Gestaltwandel der Sprachleistung bei einem Fall von corticaler motorischer Aphasie

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Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

  1. 1.

    Es wird ein Fall von corticaler motorischer Aphasie nach einer Granatsplitterverletzung der Basis der linken unteren Stirnwindung im Hinblick auf den Leistungswandel seiner Sprache eingehend analysiert. Sehr schwer betroffen war das Spontansprechen, das den typischen schweren Telegrammstil aufwies, ferner das Nachsprechen, bei dem sich — wie auch beim Spontansprechen — eine erhebliche Artikulationsstörung bemerkbar machte, aber auch eine Unfähigkeit, mehr als 8 silbige Sätze in ihrer vollen Gliederung wiederzugeben, ferner die Wortfindung, wobei insbesondere die erhebliche Störung im Nennen von Farb- und Zahlworten eingehend untersucht wurde, endlich das Lesen und Schreiben. Demgegenüber war die Rechenleistung durch die schwere Sprachstörung nur mittelbar betroffen. Das Sprachverständnis war am wenigsten verändert, doch fand sich bei eingehender Untersuchung auch hier das Symptom der Labilität der Bedeutungsschwelle.

  2. 2.

    Die eingehende Analyse der einzelnen Leistungsveränderungen ergab Anhaltspunkte für die Annahme, daß das Wesen der Störung in dem Entwicklungsvorgang zu suchen ist, der vom vorsprachlichen Gegebensein des gedanklichen Inhalts zur sprachlichen Form führt. Nach dem Satz, daß Störungen einer Form immer als Störungen der zu dieser Form führenden Entwicklung aufgefaßt werden können, muß auch die Störung der sprachlichen Form als Störung jener Entwicklung aufgefaßt werden, die eben zu dieser Form führt. Diese aktuelle Entwicklung sprachlicher Formen wurde als aktualgenetischer Prozeβ im Sinne von Sander aufgefaßt. Das Wesen der Störung muß dann darin liegen, daß diese Aktualgenese nicht bis zur völligen Ausgestaltung verläuft, sondern auf halbem Wege stecken bleibt.

  3. 3.

    Die Ergebnisse der Analyse der Spontansprache wurden gewissermaßen in einer dem Experiment nahekommenden Weise bestätigt durch die Feinanalyse der Lese- und Schreibleistungen im Vergleich zu den Leistungen der sprachlich-motorischen Exekution (Artikulation) des Wortes. Dabei ergab sich, daß in beiden Leistungsbereichen die aktualgenetische Entwicklung der vorsprachlichen Inhalte zur endgültigen Form gewissermaßen auf halbem Wege, d. h. auf der Stufe der Vorgestalt stecken bleibt; dabei fanden sich bei den graphischen Leistungen alle Zeichen der optischen, bei den Artikulationsleistungen die Zeichen der kinetischen Vorgestalt. Diese beiden Formen unterscheiden sich voneinander dadurch, daß bei der ersteren Erhaltensein der Initiale und Terminale bei Diffusität des Binnen, bei der letzteren hingegen Erhaltensein des rhythmischen Vokalgerüstes bei Verlust der Konsonantenstruktur, ganz besonders der Initiale angetroffen werden. Das Wort verändert sich graphisch-optisch also in anderer Weise als kinetischakustisch, beide Male aber so, wie es nach dem Vorgestaltprinzip zu erwarten war.

  4. 4.

    Gegenüber der bisherigen Anschauung, bei der motorischen Aphasie handle es sich um eine mnestisch-associative Störung, d. h. eine Störung der Verknüpfung von Bewegungsengrammen bedeutet die hier vorgetragene Anschauung, es handle sich uni eine aktualgenetische Störung, d. h. eine Störung der Ausgliederung von Bewegungsgestalten insofern einen radikalen Standpunktswandel, als hierdurch an Stelle eines mechanistischen ein evolutionistisches Prinzip gesetzt wird, woraus sich unter anderem ergibt, daß die Fehler des motorisch-aphasischen Sprechens sich als streng determiniert erweisen müssen. Der besondere Akzent wurde deshalb auch nicht auf die Feststellung des Negativen, des Leistungsausfalls, also dessen gelegt, was der Kranke nicht mehr kann, sondern auf die Feststellung des Positiven, des Leistungswandels, also dessen, was er noch kann, mit anderen Worten des Fehlers und seiner Analyse. Es ist kein Zufall, daß die klassische Lehre die Analyse der Fehler fast völlig vernachlässigte.

Die Leistungsveränderung der Sprache des Motorisch-Aphasischen, die zeigt, daß das epikritische Optimum des Versprachlichungsprozesses nicht mehr aufrecht gehalten werden kann, erwies sich damit als ein typisches Beispiel dessen, was wir als protopathischen Gestaltwandel der Leistung bezeichneten.

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Conrad, K. Strukturanalysen hirnpathologischer Fälle. Arch. f. Psychiatr. u. Z. Neur. 179, 502–567 (1948). https://doi.org/10.1007/BF00340244

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