Zusammenfassung
In den 10er Jahren des 20. Jahrhunderts kommt ein Jude auf seinen Wegen in die Kulturstadt München, in die Stadt expressionistischer Zirkel und antijüdischer Propaganda. Entgegen der Erwartungshaltung meidet er die zahlreichen antisemitischen Stammtische und Gruppierungen nicht, sondern weilt geradezu lustvoll, deren Rhetorik munter weiterspinnend unter ihnen. Was zunächst widersinnig klingt, folgt einer ganz eigenen Logik, denn der Jude macht von Anbeginn klar, woraus er besteht: Er ist eine Person gewordene „antisemitische Phantasie“,1 eine füchtig vernähte Figur, die dem Antisemitismus ihre Gestalt und Existenz, ihre Vergangenheit und Dauer verdankt:
Mein Zweck ist, nachzuweisen, daß alles Unheil, das jemals in der Welt passiert ist, die Kreuzigung Christi, die Einschleppung der Philosophie und der Syphilis in Europa, die Erfindung der Sozialdemokratie und des Kapitalismus, die Entstehung des Weltkriegs und des Pazifismus, kurz, daß alles Schlechte in der Welt von den Juden angestiftet wurde.2
Die Gestalt gewinnt nur dort an festem Boden, an Aussehen und Kontur, wo der Antisemitismus Konjunktur hat. Ihre Körperfülle steht in direktem Verhältnis zu der Menge judenfeindlicher Aussagen, der Leib wird geradezu genährt durch die gegen ihn vorgebrachten Worte, Übereinkünfte und Topoi. Seine Krawattennadel in Gestalt eines Hakenkreuzes als Kompass nutzend, erscheint er wie aus dem Nichts immer dort, wo judenfeindliche Propaganda hörbar wird und bildhaft gestützt werden muss.
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Anmerkung
Lion Feuchtwanger, Gespräche mit dem Ewigen Juden, in: An den Wassern von Babylon. Ein fast heiteres Judenbüchlein, München 1920, 53–92, hier: 56.
Zum Deus ex machina in seinen theatralen Ausprägungen vgl.: Richard Fösel, Der Deus ex machina in der Komödie, Erlangen 1975.
Manfred Lefèvre, Der Deus ex machina in der deutschen Literatur. Untersuchungen an Dramen von Gryphius, Lessing und Goethe, Berlin 1968.
Ruth Klüger, Gibt es ein „Judenproblem“ in der deutschen Nachkriegsliteratur?, in: Dies., Katastrophen. Über deutsche Literatur, Göttingen 1994, 9–38, hier: 36.
Carry Brachvogel, Götter a. D., in: Dies., Die Wiedererstandenen, Berlin 1900, 116.
Vgl. Stanislav Michal, Das Perpetuum mobile gestern und heute, Düsseldorf 1981, 1f. Zur bis zum Ende des 20. Jahrhunderts weiterhin großen Anzahl von Entwürfen perpetuierlicher Maschinen siehe 154.
Joachim Kalka, Phantome der Aufklärung. Von Geistern, Schwindlern und dem Perpetuum Mobile, Berlin 2006, 19.
„Mit meinem Modell ist nichts anzufangen. Das behindert aber den Strom meiner Phantasie nicht im mindesten.“ Zit. n.: Paul Scheerbart, Johannes Vennekamp, Das Perpetuum Mobile, München 1997, 16.
Vgl. auch für die folgende Argumentation Raimar Zons, Selbstverfeindung. Zur Geschichte des modernen Antisemitismus in Deutschland, in: Feindschaft, hg. v. Medardus Brehl, Kristin Platt, München 2003, 178–197, hier: 179.
Oliver Lubrich, Shakespeares Selbstdekonstruktion, Würzburg 2001, 127, 110 f.
Sabine Schülting, The Merchant of Venice. Shylock geht — und immer kehrt er wieder, in: Interpretationen. Shakespeares Dramen, Stuttgart 2000, 129–155, hier: 146.
Vgl. Mona Körte, „Das Bild des Juden in der Literatur“. Berührungen und Grenzen von Literaturwissenschaft und Antisemitismusforschung, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Bd. 7, Frankfurt am Main, New York 1998, 140–150.
Umgekehrt sprechen Studien zum visuellen Antisemitismus gerne von einer „ikonographischen Grammatik“ antijüdischer Bilder. Vgl. Julia Schäfer, Das „Judenbild“ im Bild, in: Judenfeindschaft als Paradigma. Studien zur Vorurteilsforschung, hg. v. Wolfgang Benz, Angelika Königseder, Berlin 2002, 65–69, hier: 66.
Nicoline Hortzitz, Die Sprache der Judenfeindschaft, in: Antisemitismus. Vorurteile und Mythen, hg. v. Julius H. Schoeps, Joachim Schlör, Frankfurt am Main 2000, 19–40.
Martin Gubser, Literarischer Antisemitismus. Untersuchungen zu Gustav Freytag und anderen bürgerlichen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1998, 309 f.
Florian Krobb, Stefan Wirtz, Über Judentum und Antisemitismus, literarisches Bild und historische Situation: Grundzüge der Diskussion, in: Conditio Judaica. Judentum, Antisemitismus und deutschsprachige Literatur vom 18. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg, 2. Teil, hg. v. Hans Otto Horch, Horst Denkler, Tübingen 1989, 337–354, hier: 353.
Mona Körte, „Juden und deutsche Literatur“. Zu den Erzeugungsregeln von Grenzziehungen in der Germanistik, in: Antisemitismusforschung in den Wissenschaften, hg. v. Mona Körte, Werner Bergmann, Berlin 2004, 353–375,hier: 354.
Franka Marquardt, Erzählte Juden. Untersuchungen zu Thomas Manns Joseph und seine Brüder und Robert Musils Mann ohne Eigenschaften, Münster, Hamburg 2003, 19.
Vgl. dazu Holger Dainat, Hans-Martin Kruckis, Die Ordnungen der Literatur(wissenschaft), in: Literaturwissenschaft, hg. v. Jürgen Fohrmann, Harro Müller, München 1995, 117–156, hier: 141 f.
Z.B. Judith Butler, Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt am Main 2006.
Marina Münkler, Alterität und Interkulturalität, in: Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte, hg. v. Claudia Benthien, Hans Rudolf Velten, Reinbek 2002, 323–344, hier: 326.
Ernestine Schlant, Die Sprache des Schweigens. Die deutsche Literatur und der Holocaust, München 2001, 267.
Anders die französische Tradition nach 1945: dort werden jüdische Figuren viel radikaler als aus dem Jenseits sprechende Figuren verortet, wodurch auch deren Musealisierung thematisiert wird. Vgl. dazu Mona Körte, Okkupation und Obsession. Judenfiguren in der französischen Nachkriegsliteratur, in: Fremdes Begehren. Transkulturelle Beziehungen in Literatur, Kunst und Medien, hg. v. Eva Lezzi, Monika Ehlers, Köln, Weimar 2003, S. 281–293.
Zur paradoxen Formel „nicht-identische Identität“ siehe Klaus Holz, Die antisemitische Konstruktion des „Dritten“ und die nationale Ordnung der Welt, in: Das ‚bewegliche‘ Vorurteil. Aspekte des internationalen Antisemitismus, hg. v. Christina von Braun, Eva-Maria Ziege, Würzburg 2005, 43–61, hier: 54 f.
Klaus Briegleb, Unmittelbar zur Epoche des NS-Faschismus, Frankfurt am Main 1989, 83.
Marcel Atze, Cherchez le Juif. Wie der Romancier Robert Neumann schon vor vierzig Jahren einen Skandal mit einer Marcel Reich-Ranicki nachempfundenen literarischen Figur auslöste, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Bd. 11, Berlin 2002, 311–316, hier: 314.
Alfons Schweiggert, Das Buch, München 1989, 91 und 89.
Martin Walser, Tod eines Kritikers. Roman, Frankfurt am Main 2002, 113.
Vgl. Uwe Wittstock, Marcel Reich-Ranicki. Geschichte eines Lebens, München 2005.
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Körte, M. (2007). Judaeus ex machina und ‚jüdisches perpetuum mobile‘ Technik oder Demontage eines Literarischen Antisemitismus?. In: Bogdal, KM., Holz, K., Lorenz, M.N. (eds) Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05224-7_4
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